RETAIL
HERAUSFORDERUNGEN DIGITALE TRANSFORMATION DES STATIONÄREN HANDELS IN DER ONLINEWELT
Von NETFORMIC | 01.02.2023
Erfahre im Interview mit Timo und Carsten Greve am Beispiel Reformhaus, wie die Transformation des stationären Handels gelingen kann. Nutze digitale Möglichkeiten und stärke Dein lokales Geschäft!
Spannendes Video-Interview: Unser CEO & Founder Timo Weltner spricht mit Carsten Greve, der seit 2008 im Vorstand der Reformhaus EG ist. Gemeinsam erörtern sie, wie der stationäre Handel und E-Commerce sich gegenseitig ergänzen können.
- die Entwicklung von Reformhaus als Gattungsbegriff.
- die rechtlichen Aspekte von sogenannten „Health Claims“.
- die Herausforderung, das Know-How des Personals im Laden in das Online-Geschäft zu bringen.
- die Bedeutung von eigenem Content.
- die Entwicklungsaussichten von Reformhaus für die kommenden Jahre.
“Der stationäre Handel denkt viel zu sehr stationär - und alles, was online ist, ist eine große Gefahr für mich. Das heißt, online entwickelt sich etwas und man sitzt nur auf der Zuschauertribüne. Und diese Position geben wir gerade auf. Wir wollen auf dem Spielfeld nicht nur mitspielen, sondern wir wollen das Spiel aktiv gestalten.”
“Der stationäre Handel denkt viel zu sehr stationär - und alles, was online ist, ist eine große Gefahr für mich. Das heißt, online entwickelt sich etwas und man sitzt nur auf der Zuschauertribüne. Und diese Position geben wir gerade auf. Wir wollen auf dem Spielfeld nicht nur mitspielen, sondern wir wollen das Spiel aktiv gestalten.”
INTERVIEW TRANSKRIPT
Carsten Greve: Ja, da geht es Ihnen gar nicht anders als mir selber. Ich bin branchenfremd, ich habe mal Elektrotechnik studiert und BWL und bin 2008 in den Vorstand der Reformhaus EG bestellt worden. Ich hatte vorher auch in meiner Kindheit wenig Berührungspunkte mit Reformhaus. Und auch ich musste mich erst mal mit Reformhaus überhaupt auseinandersetzen – Was ist das überhaupt? Und Sie haben vollkommen recht, das ist tatsächlich etwas, was oft als Gattungsbegriff gesehen wird. Und das ist auch grundsätzlich nicht falsch. Aber es ist halt eine eingetragene Marke. Ende des 19. Jahrhunderts, in den 80ern, wurde das erste Verkaufshaus in Berlin gegründet, unter dem Begriff Gesundheitszentrale. Und daher kommt auch dieser Begriff “Reformhaus” – aus der Reformbewegung des 19. Jahrhunderts. Raus aus den Zwängen der Industrialisierung. Und daraus entstanden sind dann in den 90er/ Anfang des 20. Jahrhunderts, die ersten Geschäfte, die sich Reformhaus genannt haben.
Und aus dieser Bewegung heraus wurde Anfang 1930 die Genossenschaft gegründet. Das heißt, es haben sich viele Geschäftstreibenden zusammengesetzt und haben gesagt “Was wollen wir?“ “Wir wollen unsere Interessen bündeln” und haben eine Genossenschaft gegründet. Und Hintergrund war: Man möchte etwas anbieten für ein nachhaltiges und vor allen Dingen auch ein gesundheitsbewusstes Leben für eine gesundheitsbewusste Lebensweise.
Und aus dieser Entwicklung heraus hat man dann auch irgendwann selber angefangen, aus Ursprungsländern Produkte zu importieren. Denn gerade so in den 50er und 60er Jahren, das war die Zeit, wo fast alles an Lebensmitteln haltbar gemacht wurde. Und das widersprach unserer Philosophie.
Wir haben in Frankreich, damals Anfang der 70er, eines der ersten Bio-Projekte initiiert und haben in der Camargue Reis angebaut. Aber wir sind so ein bisschen auch Pioniere, da sehen wir uns auch für den biologischen Landbau. Aber wir sind auch die Einkaufsstätte, wo wir Beratung anbieten. Das ist eine unserer absoluten Kernkompetenzen. Unser Personal in den Reformhäusern ist sehr gut ausgebildet und kann zu vielen Fragen sehr gute Antworten liefern und, vor allen Dingen, auch gute Produkte dann entsprechend empfehlen.
Heute ist es so, dass wir ungefähr 1000 Reformhäuser in Deutschland betreiben. Das sind alles eigenständige Kaufleute, die nach wie vor in dieser Genossenschaft organisiert sind und dann ihre Reformhäuser überregional betreiben. Und wir haben Reformhaus-Betreiber mit nur einem Geschäft, wir haben aber auch Reformhaus-Betreiber mit 100 Filialen und das ist auch eine große Herausforderung in der heutigen Zeit. Dass die Anforderungen an die Genossenschaft sehr breit gestreut sind.
Von jemandem, der sehr klein aufgestellt ist, mit nur einem Geschäft und somit auch eine hohe Erwartung an die Zentrale hat, was Marketing und Digitalisierung betrifft. Es gibt aber auch große Filialisten, die ein eigenes Zentralbüro haben und auch heute natürlich viele dieser Anforderungen für sich selbst schon organisieren.
Timo Weltner: Im Grunde genommen hat Reformhaus Bio gemacht, als es diesen Trend und wahrscheinlich auch den Begriff der Definition “Was heißt eigentlich Bio?“ noch gar nicht so richtig gab.
Und was ich gerade noch spannend fand, was über New Work. Wenn ich das richtig verstehe, dann hat man ja quasi um 1900 herum die damalige Transformation in der Arbeitswelt mit der Industrialisierung eine Gegenbewegung, die mehr auf den Menschen an sich eingeht letzten Endes. Daraus ist ja quasi Reformhaus entstanden. Also durchaus ja auch eine Parallele zur heutigen New Work Entwicklung, wenn man sich das so ein bisschen überlegt oder ist das eine Missinterpretation meinerseits?
Carsten Greve: Nein, das ist genau richtig. Sie müssen sich überlegen, im 19. Jahrhundert, in der Zeit der Industrialisierung und auch des Kleiderzwangs. Das waren Themen, wo aus der Reformbewegung gesagt wurde: Das widerspricht uns eigentlich, das wollen wir nicht.
Und das war immer der Ansatz, den wir hatten und das war früher auch kein SB-Geschäft, sondern es war ja ein reines Beratungs- und Thekengeschäft. Also, die Leute sind ja reingekommen und wollten was bestimmtes kaufen und damals war das schon so, dass die Beratung eine ganz wichtige Rolle gespielt hat.
Timo Weltner: Perfekter Übergang. Also das SB-Geschäft ist ja quasi danach. Ich glaube, Tengelmann war es, die es in den 50ern quasi so ein bisschen nach Deutschland gebracht hat. Und wenn ich es richtig im Kopf habe aus den USA.
Das ist ja dann die Folgefrage. Ich glaube, wir haben gestern auch bekannt gegeben, dass wir da mit NETFORMIC zusammenarbeiten und Sie sich da für uns entschieden haben. Was ist so ein bisschen die Überlegung, das Reformhaus im Zuge der Digitalisierung? Also wenn wir das Beratungsgeschäft von 1900 nehmen, dann kam irgendwann SB dazu, jetzt im stationären Sinne. Der Kunde kann sich um die Beratung quasi winden bis hin zu: er nimmt sie vielleicht auch gar nicht mehr wahr. Und das jetzt auf digital übertragen ist ja durchaus eine ähnliche Herausforderung. Da werde ich zum reinen Produkt-Lieferanten, weil ich es im Online Shop habe. Ich weiß noch, wo wir die Erstgespräche geführt haben, über diesen, ich weiß den Namen nicht mehr, den Honig…
Carsten Greve: Manuka Honig, genau.
Timo Weltner: Genau. Für einen, aus meiner Perspektive, absurd hohen Preis. Ich habe mir von meiner Frau sagen lassen: “Ne, der ist es wert.” Weil: Das ist kein Honig, sondern irgendein `Gesundheitsprodukt‘, in diesem Sinne. Aber da komme ich ja schnell auch in die Ersetzbarkeit in der digitalen Welt. Was sind da so ein bisschen Überlegung bei Reformhaus, wie man quasi dieses stationäre Genossenschaft Know-how, wo ja quasi das vor Ort fachkundige Personal existiert, in die digitale Welt übertragen kann.
Carsten Greve: Die Herausforderung heute hat auch etwas mit der gesetzlichen Grundlage zu tun. Als ich angefangen habe mich mit Reformhaus auseinanderzusetzen, da war es üblich, dass man auf Produkte draufschreiben konnte, wofür ein Produkt eigentlich gut ist.
Es gibt sogenannte Health Claims. Das heißt, man muss in Brüssel einen Antrag stellen: Ich möchte für ein Produkt eine Gesundheitsbezogene Aussage treffen. Und es gibt Produkte, da ist das zulässig und es gibt Produkte, da ist es nicht zulässig. Es ist relativ kompliziert. Aktuell sind es ungefähr 250 Health Claims, die es überhaupt gibt hier in der gesamten EU, die ich auf Lebensmittel aufbringen kann, wenn ich eine gesundheitsbezogene Aussage tätige. Das spielt uns natürlich als Reformhaus doch ein wenig in die Karten, weil wir einfach auch die Kompetenz in den Geschäften haben, zu den Produkten mehr zu sagen, als wir auf dem Produkt schreiben dürfen.
Aus diesem Grund haben wir auch angefangen, das Ganze online zur Verfügung zu stellen. Das heißt, wir haben online angefangen, die Produkte ausführlicher zu beschreiben. Wir haben also auch sehr viel Content erarbeitet für unseren digitalen Auftritt. Und das wird jetzt die große Herausforderung, die wir in den nächsten Monaten für uns auch bewältigen müssen. Wie kriegen wir diesen Content so aufgebaut und so integriert in ein eCommerce Umfeld? Ohne dass wir in Gefahr laufen, dass der Gesetzgeber sagt: So geht es nicht, das dürft ihr nicht.
Also dieses Thema der Beratung ist extrem wichtig und ist auch etwas, was der Kunde gerne möchte. Und auch im Online Bereich besteht ein großes Interesse an Aufklärung.
Sie wissen, wenn ich einfach nur in Google einen Begriff eingebe, dann kommen zig Seiten, wo ich mir irgendwelche Informationen holen kann und oftmals bin ich danach verwirrter, als ich es eigentlich vorher war. Und ich glaube, da haben wir eine große Chance, auch als Reformhaus aufzutreten und unsere Kompetenz sauber zu spielen und dem Kunden zu zeigen: Im Reformhaus bist du da wirklich gut aufgehoben. Und es zeigt sich auch, dass der Konsument oder die Kund*Innen, die haben ein großes Interesse daran, Produkte zu kaufen bzw. sich auch entsprechend zu ernähren und auch begleitend zu ernähren, auf natürliche Weise.
Das ist der Unterschied auch zur Apotheke. Sie gehen zur Apotheke, wenn Sie wirklich akut krank sind. Im Reformhaus kaufen Sie Produkte, um Ihre Gesundheit zu erhalten.
Timo Weltner: Also Reformhaus ist präventiv.
Carsten Greve: Genau.
Timo Weltner: Heißt, wenn man auch gerade die aktuelle Reformhaus Welt Online sich anguckt, dann übersetzt dieses Thema mit der rechtlichen Fragestellung: Was kann ich jetzt ans Produkt schreiben? Weil das ist ja im Endeffekt so dieses Content- und Commerce-Thema. Wie verbinde ich den heutigen Magazin-Charakter mit der E-Commerce Landschaft und bin trotzdem noch quasi im juristisch korrekten Bereich unterwegs? Habe ich das richtig verstanden?
Carsten Greve: Richtig.
Bleiben wir bei Ihrem Honig. Es ist klar, der Honig hat eine antibakterielle Wirkung, oder eine antivirale Wirkung. Das ist auch medizinisch heute bewiesen. Es gibt auch bereits medizinische Hochschulen, die mit diesem Honig arbeiten. Und zwar nicht nur im Bereich Erkältung und Rachenraum, sondern auch Hautirritationen und so weiter, mit sehr guten Erfolgen. Und trotzdem ist es nicht zulässig, zu diesem Honig diese Aussage auf dem Produkt zu tätigen. Ich darf also nicht auf das Produkt draufschreiben: Wirkt antiviral.
Gerade auch im Bereich zurzeit von Corona war das ein Thema. Dieses Thema: Stärkung des Immunsystems, antivirale Wirkung, wo man sehr vorsichtig sein muss. Was darf man sagen, was darf man nicht sagen und das natürlich auch wirklich rein präventiv gesehen. Also nicht falsch verstehen, aber das ist genau der Punkt, wo wir jetzt versuchen werden, dass wir trotzdem etwas sagen können, dass wir Content haben und der Kunde trotzdem auch im Onlinebereich das Produkt kaufen kann.
Timo Weltner: Heißt für Sie als Handelskette: Ganz klare Strategie, dieses Fachberatungs-Know-How aus dem stationären wird übersetzt in der digitalen Welt mit Neudeutsch: “Content is King”. Und zwar eigener Content. Also es gibt ja auch durchaus Branchen, wo der Händler keinen customized und individuellen Content hat. Das ist quasi die Antwort auf die Fragestellung: Wie bringe ich das fachliche Know-how in eine, in einem digitalisierten Vertriebsprozess in Richtung Kunde.
Carsten Greve: Genau. Weil es gibt definitiv Grenzen, wo ich gesetzlich nicht weiter kann. Das Reformhaus ist aber auch ein Spezialist. Aber was eine tolle Herausforderung ist, ist das Thema auch den stationären Handel in den eCommerce-Bereich mit zu integrieren. Denn ich kann ja durchaus auch hergehen und sagen: Geh ins Reformhaus, also hol dir noch mehr Input im Reformhaus. Dort triffst du die Produkte, da kannst du noch mehr dazu erfahren. Wir können Services anbieten von Hauttypbestimmung und so weiter.
Timo Weltner: So ein bisschen research online, purchase offline bzw. Drive to Retail. Im stationären Geschäft usw., da wo halt dann die Grenze des Legalen letzten Endes in dem Inhalt erreicht ist. Verstanden, hochspannend und auch eine Antwort, die man ehrlicherweise seltener hört. Weil wir schon sehr häufig mit Handelsstrukturen zu tun haben, die halt nicht bereit sind, diesen Weg des individuellen Contents zu gehen. Letzten Endes ist aber das, würde ich durchaus bestätigen, dass das wahrscheinlich die einzige Antwort ist, wie man diese fachliche Kompetenz letzten Endes auch in einen digitalisierten Vertriebsprozess übertragen kann.
Carsten Greve: Richtig.
Timo Weltner: Jetzt fangen wir gerade an, auf Shopify Basis für Reformhaus etwas zu bauen. Was für einen Fußabdruck hat denn das Reformhaus heute schon in der digitalen Welt? Also ich sage immer so ein bisschen lapidar: Ich hab vor zehn Jahren schon gedacht: Das Thema ist durch, es sind alle Handelsketten digitalisiert und haben dann einen großen digitalen Fußabdruck. Wo ist da Reformhaus heute aufgestellt?
Carsten Greve: Also ich glaube, dass es auf der einen Seite einen großen digitalen Fußabdruck gibt, aber der ist sehr konfus. Was ich damit meine, ist: Ich weiß noch, als ich 2008 angefangen habe, da gab es eine Internetseite. Die war eigentlich nicht wirklich gepflegt. Und dann hat man sich irgendwann Gedanken darüber gemacht. Man möchte einen neuen zentralen Internetauftritt aufbauen, für Reformhaus.de.
Und ich wurde fast von der Bühne gejagt, als ich gesagt habe: Wir bauen auch einen eigenen zentralen Online Shop auf. Das war für den stationären Handel 2009/ 2010 nicht denkbar, dass man parallel auch online die gleichen Produkte vertreibt.
Mal ganz davon abgesehen, dass wir aufgrund der Struktur vieler Mitglieder, die ihre eigenen Geschäfte betreiben, dass viele gesagt haben: Aber ich möchte es nicht zentral, sondern ich möchte ja mich als Reformhaus “Mayer” in Hintertupfingen präsentieren. Der ein oder andere sogar mit eigenem Shop.
Timo Weltner: Also nicht nur ein „reformhaus.de“, sondern jeder hat irgendwie so sein eigenes “Reformhaus Müller” und einen eigenen Shop-Auftritt oder was auch immer.
Carsten Greve: Mit der Konsequenz, dass man festgestellt hat: Mensch, sowas muss ich auch aktuell halten und immer pflegen. Das heißt, ich brauche in irgendeiner Form entweder eine Agentur oder Manpower. Auf alle Fälle entstehen Kosten. Und das ist eigentlich das Schlimmste, dass auf einmal dort eine Webseite online ist, wo nichts mehr drauf passiert. Und das Gleiche ist im Grunde genommen auch im Bereich von Online Shops im E-Commerce Bereich. Es gab eine Zeit, wo man hergegangen ist und gesagt hat: So, jetzt mache ich einen Online Shop auf, bau da irgendwas auf. Das macht irgendeine Mitarbeiterin von uns und dann ist das Thema erledigt und danach mache ich die Hälfte meines Umsatzes online. Das war ein totaler Irrglaube.
Auch mit Ansage aus meiner Sicht, weil wir immer gesagt haben: Das macht überhaupt keinen Sinn. Und das ist auch heute der Fall. Wir betreiben einen zentralen Online Shop und eine zentrale Homepage und es gibt einige Online Shops nebenbei noch, die von Mitgliedern betrieben werden und die auch in einer gewissen Weise erfolgreich sind. Aber natürlich nicht so, dass man in der Summe wirklich super performant ist, sondern man bremst sich eigentlich gegenseitig aus. Und das ist jetzt sozusagen auch die nächste Stufe, dass wir dort uns neu aufsetzen wollen und eine neue Entwicklung anschieben wollen. Das heißt, es gibt einen digitalen Auftritt. Wir sind auch recht gut präsent in den sozialen Netzwerken. Das wird in erster Linie zentral auch von einer unserer Tochtergesellschaften aktiv betrieben. Und wir haben auch eine sehr gute Homepage, die sehr viel Content liefert. Und jetzt kommt aber die nächste Stufe.
Timo Weltner: Jenseits der 10 % vom Gesamtumsatz, ist der digitale Bereich bei Reformhaus aber noch nicht.
Carsten Greve: Nein, überhaupt gar nicht.
Timo Weltner: Okay. Aber wenn man sich jetzt einfach mal die gesamte Handelswelt anguckt, dann müsste man ja wahrscheinlich mittlerweile irgendwie in dem Segment schon irgendwo mindestens mal bei 10 %, eher wahrscheinlich bei 15-20 % Anteil “Online” sein. Ich glaube, 700 stationäre Geschäfte habe ich noch im Kopf, hat man ja einen repräsentativen Anspruch letzten Endes.
Carsten Greve: Das ist die ganz große Gefahr, die der stationäre Handel insgesamt hat. Der stationäre Handel denkt viel zu sehr: ich stationär und alles was online ist, ist eine große Gefahr für mich. Online entwickelt sich etwas und man sitzt nur auf der Zuschauertribüne. Und diese Position geben wir gerade auf. Wir wollen auf dem Spielfeld nicht nur aktiv mitspielen, sondern wir wollen das Spiel aktiv gestalten. Und ich glaube, das ist eine ganz wichtige Entscheidung, sowohl in den Gremien der Genossenschaft als auch bei den Mitgliedern der Genossenschaft. Da sind wir auf einem sehr, sehr guten Weg. Denn genauso wie Sie sagen: Es findet Markt online statt mit einem großen Sortiment Bereich, der auch im Reformhaus erhältlich ist. Aber auch in einem großen Umfang, ohne dass wir dabei sind. Und das kann nicht im Grunde genommen in unserem Interesse sein. Und ich denke, dass wir dort auch heute noch Zeit haben, das aktiv mitzugestalten.
Timo Weltner: Also 100%ige Zustimmung. Diese Transformation, das ist ja das die Industrie, in der Reformhaus unterwegs ist. Es gibt einen natürlichen Shift des Käuferverhaltens. Momentan gibt es noch nicht so “das digitale Reformhaus”. Aber wenn man zu lange wartet, dann gibt es halt irgendwann einen, der mal auf den Gedanken kommt, eine reine digitale Welt aufzubauen ohne den transformationslastigen Bedarf aus dem Stationären.
Eingangs haben Sie das ja auch schon so ein bisschen vom Selbstbild her. Was mir beim Reformhaus aufgefallen ist: Auf der einen Seite sind Sie eine Handelskette, aber Sie haben ja auch einen starken Eigenmarken-Bereich. Also ich glaube, es sind nicht alles Eigenmarken, aber Exklusiv-Marken. Ich würde es mal einen Eigenmarken-ähnlichen-Bereich nennen, der ja durchaus auch einen USP in Richtung Kunde darstellt. Das würde man irgendwie so Direct to Consumer Business nennen.
Also für Sie im stationären Geschäft hat die Kundenbeziehung ja einen extremen Wert. Ich würde gerne einfach noch mal auf dieses Thema Kundenbeziehung unter dem Gesichtspunkt Eigenmarken eingehen. Und Sie hatten vorher schon mal so ein bisschen angedeutet, dieses Know-how der Mitarbeiter. Ich weiß noch, in einem der ersten Vor-Termine waren wir in der Akademie. Es gibt also eine eigene Akademie und Sie legen ja auch sehr viel Wert auf die Beratungskompetenz in ihrem Segment. Aber vielleicht können Sie darauf nochmal eingehen auf diese zwei Aspekte: Kundenbeziehung, Eigenmarke und Akademie.
Carsten Greve: Wir kommen aus einem Bereich, wo es sehr viele Produkte gab, die wirklich exklusiv nur im Reformhaus erhältlich waren. Das hat sich ein wenig relativiert. Ich sage mal 20-25 % aller Produkte, die Sie im Reformhaus kaufen können, gibt es auch wirklich nur im Reformhaus. Zum Teil haben wir selber einen Produktionsbetrieb und produzieren dort Lebensmittel für das Reformhaus. Und wir haben von Seiten der Genossenschaft Qualitätsvorgaben. Diese Qualitätsvorgaben, die werden von den Exklusiv-Herstellern und den Exklusiv-Produkten eingehalten. Das heißt, es sind Produkte, die den höchsten Qualitätsstandard haben. Auch das Thema der Rückstandskontrollen. Und so weiter.
Timo Weltner: Ist das eine Art eigenes Qualitätssiegel?
Carsten Greve: Ja, genau. Das ist tatsächlich eines der ganz wenigen Qualitätssiegel in Deutschland, die in Handelshand sind. Das heißt die Geschäftstreibenden sagen: “Wir wollen Produkte in der und der Qualität haben”, während andere große Qualitätssiegel in der Regel in der Hand der Hersteller stehen. Und von daher glaube ich, von der Seriosität her, ist unser Siegel durchaus höher anzusetzen.
Wir sagen: Wenn du diese Siegel benutzen willst, dann musst du auch wirklich diese Qualitätsrichtlinien einhalten. Wir haben dazu eine eigene Abteilung. Das sind entsprechend ausgebildete Leute, die dort Bewertungen vornehmen. Das geht auch weiter bis zur Volldeklaration. Und wir haben heute in fast jedem Reformhaus einen Ernährungs- und Diätberater, der dort auch entsprechend die Beratung anbieten kann. Man hat sich dazu verpflichtet, dass in jedem Geschäft zu jeder Zeit eine voll ausgebildete Person zugegen ist, die entsprechend auch beraten kann. Ich weiß von anderen Handelsketten, weil sie haben es eben gerade so ein bisschen angesprochen, ob man das nicht in irgendeiner Form kopieren könnte. Und das hat man bislang nicht gemacht, weil man einfach sagt, man bekommt dieses Know-how überhaupt nicht aufgesetzt. Und es ist einfach enormer Aufwand, auch finanzieller Aufwand, das überhaupt hinzubekommen.
Timo Weltner: Für eine Handelskette einfach häufig ein Margenproblem. Dieser Biosiegel-Vergleich nochmal. Also das müsste man vielleicht nochmal ganz anders auch darstellen, wenn man das in einer digitalisierten Welt, was ja wirklich ein absoluter USP an der Stelle ist, also den Manuka Honig kriege ich auch auf Amazon. Aber einen Reformhaus-zertifizierten Artikel, den kriege ich ja nur da.
Carsten Greve: Ja, also das ist ein gutes Beispiel. Es gibt Manuka Honig auch bei Amazon oder auch in anderen Vertriebskanälen. Trotzdem haben wir Exklusiv-Honige. Auch mit diesem Hersteller, der auch ganz normal bei Amazon verkauft, haben wir mit dem aber auch Exklusiv-Honige. Und das ist halt das, was uns auch auszeichnet.
Und so haben wir ganz viele Bereiche. Und zu all diesen Themen gibt es bei uns entsprechende Bewertungen und aber auch immer wieder den aktiven Austausch. Auch wir sind nicht starr, auch wir gucken natürlich: Wie entwickelt sich die Wissenschaft? Was gibt es für neue Erkenntnisse? Es ist ein lebendes Werk.
Timo Weltner: Es sprüht, das ganze Gespräch sprüht von einer wahnsinnigen Produkt-Beratungskompetenz, das merke ich schon. Ich bin gespannt, wie das in die digitale Welt nachher dann in Perfektion übertragen wird und hoffe, dass wir das da gemeinsam hinkriegen. Abschließende Frage: Reformhaus 2030, von heute an noch siebeneinhalb Jahre. Wo soll das Reformhaus da stehen? Was ist so ein bisschen das Bild in der bis dahin massiv digital transformierten Handelsstruktur?
Carsten Greve: Das Wichtigste ist die Relevanz, die wir heute im Offline-Bereich haben, auch im Online Bereich aufgebaut haben. Das sehen wir heute schon in vielen Bereichen, auch gerade im Fachhandelsbereich, wo die Leute oder wo die Fachhändler es verpasst haben, verschlafen haben, möchte ich direkt sagen, ihre Kompetenz und ihre Relevanz auch online aufzubauen und zu präsentieren. Und ich glaube, das ist die große Herausforderung. Und da sehe ich uns auch 2023, dass wir im Onlinebereich genauso erfolgreich sind wie im Offline Bereich und dass es eine tolle Synergie gibt zwischen Online und Offline.
Dass es diese Vernetzung zwischen dem stationären Handel und dem Online-Bereich gibt. Dass der Online-Kunde auch weiß, es gibt auch einen stationären Partner, wo ich persönlich vorbeigehen und mir eine Beratung holen kann. Heißt das, was ich online nutze und online umsetze, muss auch stationär möglich sein, dass ich als Kunde wahrgenommen werde. Wenn ich online unterwegs bin und ich in das stationäre Geschäft gehe, erkannt werde und dass man mir sagt: Mensch, Sie kaufen ja bei mir sogar online ein.
Timo Weltner: Ein besseres Schlusswort für die Zukunft der Reformhäuser in Deutschland und Österreich kann es nicht geben. Schreit so ein bisschen nach zentraler digitaler Kundenkarte. Und vielleicht noch, wenn die Relevanz des heutigen Stationären in die Onlinewelt übertragen wird. Ich glaube, da hat man extrem viel erreicht, wenn man gleichzeitig nicht noch meint, das Stationäre wachsen lassen zu müssen. Weil das ist das, was andere Handelsketten dann häufig im digitalen Wachstum hemmt.
Herr Crewe, besten Dank für den Austausch. Hat Spaß gemacht.
Carsten Greve: Auch von meiner Seite, schönen Dank.
Timo Weltner: Hoffentlich sehen wir uns da wieder, wenn die ersten Sachen live sind, die wir da bauen. Und dann können wir nochmal über die Strategie und „Content is King“ sprechen. Besten Dank.